BGH: Insolvenzrechtliche Überschuldung nach § 19 Abs. 2 InsO ist bei der Vorsatzanfechtung nach §§ 133 Abs. 1, 143 InsO ein eigenständiges Beweisanzeichen
A.
Der Bundesgerichtshof hat mit seinem Urteil vom 03.03.2022 (IX ZR 53/19) klargestellt, dass auch die insolvenzrechtliche Überschuldung im Sinne des § 19 Abs. 2 InsO im Rahmen der Vorsatzanfechtung nach den Regeln der §§ 133 Abs. 1, 143 Abs. 1 InsO ein eigenständiges Beweisanzeichen für das Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen des Tatbestandes ist. Damit kann die rechtliche Überschuldung zukünftig sowohl für das Vorliegen des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Schuldners als auch für die Kenntnis des Anfechtungsgegners von diesem Vorsatz im Rahmen einer Gesamtbetrachtung als weiteres Indiz herangezogen werden. Die Stärke des Beweisanzeichens hängt davon ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Überschuldung den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners erwarten lässt und wann dieser Eintritt bevorsteht.
Allerdings hat der BGH zugleich darauf hingewiesen, dass den Insolvenzverwalter, der sich gegenüber einem Anfechtungsgegner auf dieses Beweisanzeichen berufen möchte, die volle Darlegungs- und Beweislast trifft. Letzteres dürfte in der Praxis regelmäßig ein K.-o.-Kriterium sein. Die Entscheidung bestätigt im Ergebnis also den vom BGH im Bereich der Vorsatzanfechtung eingeschlagenen strengen Kurs.
Nach § 133 Abs. 1 S. 1 InsO ist eine Rechtshandlung anfechtbar, die der Schuldner in den letzten zehn Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat, wenn der andere Teil zur Zeit der Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte. Dieser Anfechtungszeitraum verkürzt sich auf vier Jahre, wenn die Rechtshandlung dem anderen Teil eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat (§ 133 Abs. 2 InsO). Die subjektiven Merkmale der Vorsatzanfechtung können – weil es sich um innere, dem Beweis nur eingeschränkt zugänglichen Tatsachen handelt – meist nur mittelbar aus objektiven Tatsachen hergeleitet werden. Welche objektiven Tatsachen dafür taugen, das hat die einschlägige Rechtsprechung herausgearbeitet.
I.
1. Die rechtliche Überschuldung als eigenständiges Beweisanzeichen
In seiner hier zu besprechenden Entscheidung vom 03.03.2022 (IX ZR 53/19) hat der BGH den von ihm selbst geschaffenen Katalog der für die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung sprechenden Umstände um das Merkmal der Überschuldung nach § 19 Abs. 2 InsO erweitert. Wie stets ist bei der Heranziehung eines Beweisanzeichens aber zu berücksichtigen, dass es nicht schematisch angewendet werden darf. Vielmehr kann ein einzelnes Beweisanzeichen immer nur ein Baustein in der vorzunehmenden Gesamtwürdigung aller für die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung streitenden Umstände sein.
Der BGH unterstreicht, dass die Stärke des Beweisanzeichens der insolvenzrechtlichen Überschuldung weitgehend dem Beweisanzeichen der drohenden Zahlungsunfähigkeit entspricht. Zu letzterem hatte das Gericht ja bereits in seiner grundlegenden Entscheidung zur Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung vom 06.05.2021 (IX ZR 72/20) – in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung – entschieden, dass allein aus der allseits erkannten drohenden Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nicht mehr auf die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO geschlossen werden kann. Erst kürzlich hat der BGH dies in einer weiteren Entscheidung vom 03.03.2022 (IX ZR 78/20) noch einmal bestätigt. Dementsprechend hat das Gericht nun auch betont, dass es sowohl bei dem Beweisanzeichen der drohenden Zahlungsunfähigkeit als auch bei dem Beweisanzeichen der insolvenzrechtlichen Überschuldung zusätzlicher, in der Art und Weise der Rechtshandlung liegender Umstände bedarf, um den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners begründen zu können.
2. Die Darlegungs- und Beweislast des anfechtenden Insolvenzverwalters
Um sich auf das Beweisanzeichen der insolvenzrechtlichen Überschuldung stützen zu können muss der nach § 133 Abs. 1 InsO anfechtende Insolvenzverwalter im Ausgangspunkt sowohl die rechnerische Überschuldung im Sinne des § 19 Abs. 2 S. 1 InsO darlegen und beweisen als auch eine negative Fortführungsprognose. Zugleich muss diese objektiv vorliegende insolvenzrechtliche Überschuldung sowohl dem Schuldner als auch dem Anfechtungsgegner bekannt geworden sein. Ausdrücklich weist der Bundesgerichtshof darauf hin, dass dem anfechtenden Insolvenzverwalter der Vollbeweis obliegt und dass weder Beweiserleichterungen einschlägig sind noch sonstige Regeln erkennbar sind, die eine abweichende Verteilung der Darlegungs- und Beweislast rechtfertigen könnten.
So führt der BGH explizit aus, dass dem anfechtenden Insolvenzverwalter auch die volle Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf das Vorliegen einer negativen Fortführungsprognose obliegt und dass die Formulierung des § 19 Abs. 2 S. 1 InsO dem nicht entgegenstehen kann. Das ist bemerkenswert, denn aus Rechtsstreitigkeiten, die ein Insolvenzverwalter gegen einen Schuldner führt, ist bekannt, dass der Schuldner für eine positive Fortführungsprognose darlegungs- und beweisbelastet ist und eben nicht der Insolvenzverwalter für deren Nichtbestehen.
Außerdem stellt das Gericht klar, dass die Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH, nach der einer Handelsbilanz mit einem nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag indizielle Bedeutung für die Frage zukommt, ob eine Gesellschaft insolvenzrechtlich überschuldet ist, im Rahmen der Insolvenzanfechtung regelmäßig nicht zugunsten des anfechtenden Insolvenzverwalters herangezogen werden kann. Eine andere Bewertung hält der BGH nur dann für möglich, wenn der Anfechtungsgegner selbst zu den nach § 15 a InsO antragspflichtigen Personen gehört oder wenn er den für die Beurteilung der insolvenzrechtliche Überschuldung maßgeblichen Geschehensabläufen aus anderen Gründen so nahe steht, wie eine antragspflichtige Person. Deshalb hat der BGH in dem hier vorliegenden Fall der Sache nach auch klargestellt, dass die Übermittlung eines Jahresabschlusses mit negativem Eigenkapital an ein Finanzamt keine Kenntnis von einer etwa bestehenden insolvenzrechtlichen Überschuldung auslösen kann. Das hatte sich auch bereits in der Entscheidung vom 06.05.2021 angedeutet. Der BGH führt dazu in der hier zu besprechenden Entscheidung an, dass die Übermittlung eines Jahresabschlusses gar nicht der Prüfung dient, ob der Steuerpflichtige insolvenzrechtlich überschuldet ist. Außerdem müsse die Finanzverwaltung im Grundsatz davon ausgehen, dass sich die auf Seiten des Steuerpflichtigen verantwortlichen Personen die Bedeutung eines nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrags in der Handelsbilanz bewusst gemacht und die notwendigen Konsequenzen gezogen haben.
II.
In rechtlicher Hinsicht muss also festgestellt werden, dass der Insolvenzverwalter, der einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners und die entsprechende Kenntnis beim Anfechtungsgegner durch eine insolvenzrechtliche Überschuldung belegen möchte, hohe Hürden überwinden muss. Gelingt es ihm dennoch, das Vorliegen der insolvenzrechtlichen Überschuldung in dem für die Anfechtung maßgeblichen Zeitpunkt nachzuweisen, dann muss er auch deren Kenntnis beim Schuldner und beim Anfechtungsgegner beweisen. Und schließlich ist er dann noch gehalten, weitere Beweisanzeichen darzulegen und nachzuweisen, weil die insolvenzrechtliche Überschuldung allein für den Nachweis der erforderlichen Kenntnisse gar nicht ausreichend ist.
Rechtlich bedeutsam dürften die Ausführungen des Gerichts zu den subjektiven Vorstellungen der im Streitfall beteiligten Finanzverwaltung sein: Der Hinweis, das Finanzamt müsse davon ausgehen, dass die Geschäftsführung, die in der Handelsbilanz einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag erkennt, die notwendigen Konsequenzen ziehen würde, lädt zu vielleicht nicht beabsichtigten Fehlinterpretationen ein. Denn in der Konsequenz könnte dieses Argument auch in anderen Konstellationen der Insolvenzanfechtung fruchtbar gemacht werden. Beispielsweise könnte ein Finanzamt, das erfährt, dass die Hausbank der schuldnerischen GmbH die Geschäftsbeziehung insgesamt aufgekündigt hat, argumentieren, hier handele es sich nicht um ein relevantes Indiz, denn sonst hätte die Geschäftsführung ja längst Konsequenzen gezogen.
B.
Die Auswirkungen der hier besprochenen Entscheidung für die Praxis können an einem Beispielsfall verdeutlicht werden, der auch die beiden Entscheidungen IX ZR 72/20 sowie IX ZR 78/20 berücksichtigt:
In der Vergangenheit konnte ein anfechtender Insolvenzverwalter, der auf den Zeitpunkt der anfechtbaren Handlung eine Handelsbilanz der schuldnerischen GmbH vorlegen konnte, aus der sich ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag ergibt, daraus in geeigneten Fällen – beispielsweise gegenüber einem wirtschaftlichen Berater des schuldnerischen Unternehmens – eine durchaus starke Argumentationskette aufbauen. Er konnte nämlich argumentieren, dass die rechnerische Überschuldung, die durch die Bilanz dokumentiert ist, eine insolvenzrechtliche Überschuldung indiziere, weil nämlich stille Reserven und sonstige in der Bilanz nicht abgebildeten Vermögenswerte nicht erkennbar seien und außerdem für eine positive Fortführungsprognose nichts ersichtlich sei. Es sei also klar, dass im Ergebnis vom Vorliegenden einer Überschuldung und damit auch von einer drohenden Zahlungsunfähigkeit auszugehen sei. Ergänzend konnte der anfechtende Insolvenzverwalter darauf hinweisen, dass eine solche drohende Zahlungsunfähigkeit nach der bisherigen gefestigten Rechtsprechung ein starkes Beweisanzeichen für den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners darstellt.
All das funktioniert jetzt nicht mehr. Denn der Anfechtungsgegner könnte mit der aktuellen BGH-Rechtsprechung im Rücken in einem solchen Fall souverän darauf hinweisen, dass das Beweisanzeichen der insolvenzrechtlichen Überschuldung überhaupt nicht durch eine Handelsbilanz belegt werden kann, die einen nicht durch Eigenkapital gedeckte Fehlbetrag ausweist. Außerdem könnte er darauf verweisen, dass dem Insolvenzverwalter in Anfechtungssachverhalten immer der Vollbeweis für eine von ihm behauptete rechtliche Überschuldung obliegt und dass diese – selbst, wenn sie bewiesen werden kann – als Beweisanzeichen sowieso nicht ausreichend ist. Schließlich könnte der Anfechtungsgegner auch noch ausführen, dass der BGH – in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung – entschieden hat, dass allein aus der erkannten drohenden Zahlungsunfähigkeit des Schuldners gar nicht mehr auf die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung geschlossen werden kann.
Dieses einfache Praxisbeispiel zeigt, dass der Bundesgerichtshof in der vorliegenden Entscheidung mit der insolvenzrechtlichen Überschuldung im Sinne des § 19 Abs. 2 InsO zwar ein weiteres Beweisanzeichen für das Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung geschaffen hat. Allerdings ist der anfechtende Insolvenzverwalter im Hinblick auf die Voraussetzungen der insolvenzrechtlichen Überschuldung und deren Kenntnis beim Schuldner und beim Anfechtungsgegner voll darlegungs- und beweisbelastet. Es sind also zwingend die folgenden Umstände durch den Insolvenzverwalter im maßgeblichen Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung darzulegen und zu beweisen:
• die rechnerische Überschuldung;
• die negative Fortführungsprognose;
• die Kenntnis des Schuldners und des Anfechtungsgegners von der rechtlichen Überschuldung.
Selbst wenn dieser Nachweis gelingen sollte, dann würde dies zum Beweis der subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung noch nicht ausreichen. Vielmehr bedarf es dazu weiterer, in der Art und Weise der Rechtshandlung liegender Umstände.
Insgesamt dürfte also die praktische Konsequenz der Entscheidung in einer weiteren Einschränkung erfolgreicher Vorsatzanfechtungen liegen. Die hohen Hürden, die der BGH für die Darlegung und den Beweis der insolvenzrechtlichen Überschuldung nach § 19 Abs. 2 InsO sowie deren Kenntnis aufgestellt hat, machen eine erfolgreiche Insolvenzanfechtung in diesem Bereich praktisch unwahrscheinlich.
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