In einer grundsätzlichen Entscheidung hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg nun die sozialversicherungsrechtliche Statusbeurteilung einer Physiotherapeutin vorgenommen, die in den Räumlichkeiten eines zugelassenen Heilmittelerbringers auf Grundlage eines Vertrags über eine „freie Mitarbeit“ tätig war und auch das dortige Abrechnungssystem der Praxis nutzte. Zentrale Fragestellung war, ob diese Tätigkeit als selbständig oder als sozialversicherungspflichtige abhängige Beschäftigung (sog. Scheinselbständigkeit) im Sinne von § 7 Abs. 1 SGB IV einzuordnen ist.

Das Gericht hat sich der vom Sozialgericht Heilbronn vertretenen Auffassung angeschlossen und die Berufung der Deutschen Rentenversicherung zurückgewiesen. Maßgeblich für die Beurteilung war nicht die formale Bezeichnung der Vertragsbeziehung, sondern die tatsächliche Ausgestaltung des Verhältnisses. Die Klägerin hatte nachweislich keine Patientenzuweisungen durch den Praxisinhaber erhalten, sondern behandelte nahezu ausschließlich Patienten aus ihrem früheren eigenen Kassenpatientenstamm. Sie bestimmte die Behandlungszeiten, die Terminvergabe und den Einsatz ihrer Arbeitskraft vollständig selbst. Ein Raumbelegungsplan bestand nicht, ein Schlüssel zur Praxis erlaubte ihr jederzeitigen Zugang. Die in der Praxis verwendeten Materialien wurden teils gestellt, teils von ihr selbst beigebracht. Die organisatorische Einbindung beschränkte sich allein auf die Abrechnung gesetzlich versicherter Patienten über die Kassenzulassung des Praxisinhabers, was jedoch aus Sicht des Gerichts – in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung des BSG – keinen zwingenden Rückschluss auf ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis erlaubt.

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Das LSG widersprach ausdrücklich der von der Beklagten vertretenen Auffassung, wonach aus dem Leistungserbringerrecht der §§ 124 f. SGB V zwingend ein sozialversicherungsrechtliches Weisungsrecht gegenüber dem nicht selbst zugelassenen Therapeuten folge. Diese Normen regelten ausschließlich das Verhältnis zwischen Krankenkassen und zugelassenem Leistungserbringer und hätten keine übergreifende Determinierungswirkung auf die Statusbeurteilung nach § 7 SGB IV. Auch die jüngere Rechtsprechung des BSG zur Eingliederung aufgrund regulatorischer Rahmenbedingungen – etwa im Bereich der Pflege oder kommunaler Musikschulen – sei auf den vorliegenden Sachverhalt nicht übertragbar, da es an einem strukturell kontrollierten Behandlungssystem, einer fachlichen Gesamtverantwortung und an organisatorischer Abhängigkeit fehle.

Wesentlich für die Beurteilung war ferner, dass die Klägerin ein eigenständiges unternehmerisches Risiko trug, obwohl kein betriebswirtschaftlich erheblicher Kapitalaufwand vorlag. In der Gesamtschau sah das Gericht die Merkmale einer selbständigen Tätigkeit deutlich überwiegend: Keine Weisungsgebundenheit, keine betriebliche Eingliederung, freier Zugang zu Räumlichkeiten, individuelle Patientenauswahl, eigenverantwortliche Behandlungsgestaltung und letztlich eine wirtschaftliche Eigenständigkeit, die mit dem aus dem Vertrag abgeleiteten Parteiwillen im Einklang stand.

Das Urteil ist von erheblicher Bedeutung für die Praxis der sozialrechtlichen Statusfeststellung, insbesondere im Bereich der Heilmittelerbringung. Es unterstreicht, dass auch bei formaler Abrechnung über einen zugelassenen Leistungserbringer eine selbständige Tätigkeit vorliegen kann, sofern der Therapeut eigenverantwortlich, ohne Weisungsbindung und mit eigenem Patientenstamm arbeitet. Die bloße Abrechnung über die Kassenzulassung eines Dritten begründet keine betriebliche Eingliederung im sozialversicherungsrechtlichen Sinne. Damit wendet sich das LSG ausdrücklich gegen eine automatisierte Gleichsetzung von Leistungserbringerstruktur und Beschäftigungsverhältnis und stellt stattdessen auf die konkrete vertragliche und tatsächliche Ausgestaltung ab – eine Linie, die mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG seit 2016 in Einklang steht.

Für Rechtsanwälte, die Mandanten in Statusverfahren vertreten, verdeutlicht die Entscheidung, wie entscheidend die sorgfältige Dokumentation der tatsächlichen Verhältnisse und der gelebten Vertragsausführung ist. Die Statusbeurteilung bleibt eine Einzelfallprüfung, in der rechtliche, wirtschaftliche und organisatorische Komponenten engmaschig zu würdigen sind. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage durch das LSG zugelassen worden.

LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.02.2025 – L 8 BA 426/24

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